Bibliothek und Skriptorium des Klosters Lorsch – Zur Einführung
- Bedeutung
- Aufbau in der Karolingerzeit
- Einige herausragende Werke
- Schicksal in nachkarolingischer Zeit
- Rekonstruktion des Bibliotheksbestandes und Erforschung des Skriptoriums
Bedeutung
Bald nach seiner Gründung um das Jahr 764 erlebte das im Bistum Mainz in der Ebene zwischen Rhein und Odenwald nahe Worms an der Weschnitz gelegene Kloster Lorsch einen rasanten Aufschwung. 765 hatte es Reliquien des mailändischen Märtyrers Nazarius aus Italien erhalten und nahm dessen Patronat an. Nach der traditio, d.h. Übergabe, der Abtei an Karl den Großen 772 entwickelte sich Lorsch als Königskloster zu einem zentralen Wirtschafts- und Verwaltungsstützpunkt der karolingischen Herrschaft am Mittel- und Oberrhein.
Unter Abt Richbod, einem Angehörigen des Alkuin-Kreises und spätestens seit 794 auch Bischof von Trier, wurde ein klostereigenes Skriptorium eingerichtet, und er wie ebenfalls seine Nachfolger trieben den zielstrebigen Ausbau der Klosterbibliothek voran. Lorsch fügte sich damit auch in die Bildungsbestrebungen der Karolinger ein, und man unterhielt Verbindungen zur Hofschule und zu anderen Klöstern, den kulturellen Mittelpunkten der damaligen Zeit. Mit seinem Skriptorium und seiner umfangreichen Bibliothek errang Lorsch eine, nach manchen sogar die Spitzenstellung unter diesen Wissenszentren. Nach der ersten Blütezeit im 9. folgte eine zweite im 11. Jh., und noch am Ausgang des Mittelalters priesen Humanisten die alte Bibliothek an der Weschnitz und suchten sie wegen der hier verwahrten Handschriftenschätze auf.
Aufbau in der Karolingerzeit
Ein Grundbestand an Büchern für Liturgie und monastische Lesung gehört zu jedem Kloster. Dieser wurde in Lorsch durch Erwerbung und Abschrift in der Schreibstube seit dem Abbatiat Richbods (784-804), noch verstärkt unter seinem Nachfolger Adalung (804-837) und etwas abgeschwächt unter Abt Samuel (837-856), planmäßig erweitert. Nach Ausweis von vier erhaltenen Bibliothekskatalogen (Vatikan, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 1r-34r, 44ra-66vb u. 67ra-79vb; Pal. lat. 57, foll. 1r-7v), die zwischen 830 und 860 angelegt wurden, versammelte man im 9. Jh. ca. 500 Codices in Lorsch.
Die Gliederung des jüngsten und umfassendsten dieser Inventare zeigt, dass die Lorscher Bibliothek auf drei Standorte verteilt war: In der Sakristei bzw. auf den Kirchenaltären lagen die liturgischen Bücher, das armarium enthielt die eigentliche Bibliothek, und in der Schule wurden Grammatiker und andere hier benötigten Werke verwahrt. Obwohl bereits mit der Erstellung dieses letzten Kataloges die Blütezeit des Skriptoriums endete, hatte man rund einhundert Jahre nach Gründung der Abtei eine der bedeutendsten Klosterbibliotheken nicht nur der Karolingerzeit, sondern des gesamten Früh- und Hochmittelalters geschaffen. Ihr größtes Gewicht und ihre umfassendste Geschlossenheit besaß sie neben den biblischen Büchern in den Schriften der Kirchenväter.
Einige herausragende Werke
Die Lorscher Bibliothek beherbergte Manuskripte, darunter auch spätantike, aus Italien und anderen Skriptorien des Frankenreiches. Der Palimpsestcodex Pal. lat. 24 aus der Vatikanischen Bibliothek, der ursprünglich mit Texten römischer Klassiker beschrieben war und nach deren Radierung mit Schriften des Alten Testaments wiederbeschrieben wurde, enthält Überreste mehrerer Handschriften, die teilweise bis ins 4. Jh. zurückreichen und damit zu den ältesten erhaltenen Pergamenthandschriften des Abendlandes gezählt werden. Zahlreiche ehemalige Lorscher Handschriften sind noch heute unter den wichtigsten Textzeugen für antike Autoren vertreten, etwa der berühmte „Vergilius Palatinus“ (BAV, Pal. lat. 1631), der im 5./6. Jh. auf der Apenninhalbinsel geschrieben worden war. Einige antike wie auch frühmittelalterliche Werke sind nur aus Lorsch überliefert, etwa Bücher des römischen Geschichtsschreibers aus augusteischer Zeit Titus Livius (Wien, ÖNB, Cod. 15) oder Schriften von karolingischen Gelehrten wie dem Langobarden Paulus Diaconus (BAV, Pal. lat. 1746, foll. 27r-40r) oder dem Angelsachsen Alkuin (BAV, Pal. lat. 290, foll. 1r-34r).
Benutzungsspuren in Lorscher Codices lassen deren Verwendung im Schulunterricht erkennen. Abgesehen von einigen wenigen liturgischen Texten und einer im „Codex Laureshamensis“ überlieferten Chronik ist Lorsch trotz des hier angehäuften Wissens mit eigenen literarischen Leistungen aber nicht nennenswert hervorgetreten. Doch ist Abt Richbod vielleicht als (einer der) Verfasser der „Annales Laureshamenses“ anzusehen. Ebenfalls bereits Ende des 8. Jh. entstand im klösterlichen Skriptorium nach verschiedenen Vorlagen das im Juni 2013 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe ernannte „Lorscher Arzneibuch“ (Bamberg, SB, Msc. Med. 1), ein medizinisches Kompendium, das mit einer originellen, allerdings anonymen Verteidigung der Medizin eingeleitet wird (foll. 1r-5r).
Ein weiteres wertvolles Erzeugnis der Schreibstube an der Weschnitz ist der „Lorscher Rotulus“ (Frankfurt/M., StUB, Ms. Barth. 179), eine Heiligenlitanei für den ostfränkischen König und Enkel Karls des Großen Ludwig den Deutschen, der 876 in Lorsch seine Grabstätte gefunden hat. Ein Zeuge für die Beziehungen zum karolingischen Königshof ist auch das dort um 810 entstandene „Lorscher Evangeliar“, ein mit Goldtinte geschriebener und in Elfenbeintafeln eingebundener Prachtcodex, der sich vom 9. bis ins 15. Jh. in der Lorscher Bibliothek befand. Heute ist diese Cimelie der karolingischen Buchkunst in mehrere Stücke zerlegt: Der erste Teil der Handschrift liegt in der Nationalbibliothek von Rumänien (Filiale Alba Iulia, Biblioteca Documentară Batthyáneum, Ms. R II 1), der Schlussteil in der Vatikanischen Bibliothek (BAV, Pal. lat. 50), und die kostbaren Elfenbeintafeln sind im Besitz des Victoria and Albert Museum in London (Inv.-Nr. 138-1866) und, zusammen mit dem vatikanischen Buchblock, in der Biblioteca Apostolica Vaticana (Pal. lat. 50).
Mit der „Lorscher Beichte“ (BAV, Pal. lat. 485, foll. 2v-3v), dem „Lorscher Bienensegen“ (BAV, Pal. lat. 220, fol. 58r) und althochdeutschen Glossen in zahlreichen Handschriften tragen Manuskripte aus Lorsch auch zur Kenntnis über die älteste Sprachstufe des Deutschen bei, und der „Codex Laureshamensis“ (Würzburg, Staatsarchiv, Mainzer Bücher verschiedenen Inhalts 72) – ein im 12. Jh. zusammengestelltes Urkundenbuch, in dem die Abtei im Wesentlichen ihre Besitzungen und Besitzansprüche verzeichnete und das uns einen Einblick in die grundherrschaftliche Wirtschaft des Reichsklosters erlaubt – ist Grundlage für zahlreiche Gründungsdaten von Gemeinden, die auf den von der Nordsee bis in die heutige Schweiz verstreuten ehemaligen Klostergütern liegen.
Schicksal in nachkarolingischer Zeit
Obwohl das Kloster Lorsch seit dem 11. Jh. einen wirtschaftlichen Niedergang erlebte, konnte das Skriptorium, das im 10. Jh. seine herausragende Bedeutung verloren hatte, auf einen zweiten Höhepunkt geführt werden. Unter Abt Udalrich (1056-1075) trat es insbesondere mit der Herstellung von Evangelienhandschriften hervor. Abt Udalrich, von Bernhard Bischoff mit dem Oudalricus peccator identifiziert, ist über eine Stifterinskription namengebend für eine Gruppe von Handschriften, die sich durch prachtvolle und kunstgeschichtlich interessante Miniaturen und Initialen auszeichnen.
Obschon Udalrich in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht die Lage des Klosters zunächst stabilisieren konnte, ging die alte Reichsabtei ihrem Ende entgegen. Auch die Bibliothek musste Verluste erleiden. Einige Bücher wurden dem Kloster vermutlich von Reformmönchen aus Hirsau entfremdet, die zwischen 1077 und 1108 zweimal versuchten, ihre Gewohnheiten in Lorsch einzuführen. Vermutlich bei dem ebenfalls erfolglosen Versuch der Zisterzienser, das Kloster Lorsch zwischen 1232/34 und ca. 1245 zu übernehmen, gelangte eine größere Anzahl von Lorscher Codices, größtenteils Handschriften patristischen Inhalts, in die Zisterzienserabtei Eberbach am Rhein. Wohl nachdem Lorsch 1248 in ein Stift der Prämonstratenser umgewandelt worden war, kamen mindestens drei Handschriften des 9. Jh. in deren Kloster Arnstein an der Lahn. Obgleich der Bücherbestand sicherlich auch in den folgenden Jahren weiter abnahm, belegen lobende Erwähnungen der alten Bücherei bei Humanisten im 15. und 16. Jh. und (zum Teil heute verlorene) Handschriften, die sie als Grundlage für ihre Textausgaben heranzogen, dass die Lorscher Bibliothek noch immer so manchen Schatz barg.
Unter Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz (1556-1559) wurde das Kloster Lorsch endgültig aufgelöst und die Bibliothek der Heidelberger Bibliotheca Palatina einverleibt. Mit dieser erlitten die hierher gelangten Lorscher Handschriften 1622/23 das Schicksal, als Kriegsbeute der Katholischen Liga von Herzog Maximilian von Bayern an Papst Gregor XV. verschenkt und nach Rom in die Vatikanische Bibliothek verbracht zu werden.
Rekonstruktion des Bibliotheksbestandes und Erforschung des Skriptoriums
Basierend auf den Zusammenstellungen von Bernhard Bischoff und Hartmut Hoffmann, sind insgesamt über 300 Manuskripte aus dem Zeitraum vom 5. bis ins 15. Jh. aus der Bibliothek bzw. dem Skriptorium von Lorsch erhalten. Zum Teil handelt es sich dabei lediglich um Fragmente oder auch um heute mehrere und nicht immer nur Lorscher Faszikel enthaltende Bände. Da zahlreiche Codices mehrere Lorscher Faszikel beinhalten, die erst in späterer Zeit zusammengebunden wurden, liegt die Zahl der erhaltenen Lorscher Handschriften bei 331, die sich auf 309 Signaturen verteilen.
Über 200 Codices, Faszikel bzw. Fragmente stammen aus dem 9. Jh. einschließlich der letzten Jahrzehnte des 8. Jh. Etwa 60 Handschriften sind aus dem 11. Jh. bewahrt. Aus der Zeit vor der Gründung des Lorscher Skriptoriums haben über zehn Handschriften die Zeiten überdauert, aus dem 10. Jh. wie ebenso aus dem Zeitraum vom 12. bis ins 15. Jh. jeweils rund 20.
Die ehemaligen Lorscher Codices liegen heute verstreut über 73 Bibliotheken in Europa und den USA. Mit 130 Handschriften und Handschriftenfragmenten liegt das größte Kontingent im Palatina-Fonds der Biblioteca Apostolica Vaticana. Eine größere Anzahl befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und in der Sammlung des Erzbischofs Laud von Canterbury (1633-1645) in der Oxforder Bodleian Library (jeweils ca. 20 Stück). Letztere fanden ihren Weg nach England über die Zisterzienserabtei Eberbach, während die oben genannten Codices, die nach Arnstein gelangt waren, sich heute unter den Harleiani der British Library in London befinden.
Über Geschichte und Schicksal der Lorscher Handschriften sind wir dank der grundlegenden Forschungen von Bernhard Bischoff, deren Ergebnisse er 1974 in erster Auflage zusammengefasst hat, verhältnismäßig gut informiert. Vorabeiten leisteten seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor allem August Wilmanns, Franz Falk, Theodor Gottlieb, Paul Lehmann, Wallace M. Lindsay und Chauncy E. Finch.
Neben der Herkunftsbestimmung Lorscher Bibliotheksbestände mittels Exlibris, d.h. in manchen Manuskripten eingetragenen Besitzvermerken, lässt sich die Lorscher Provenienz oftmals über einen Nachweis in den für ihre Zeit außergewöhnlich ausführlichen Bibliothekskatalogen des 9. Jh. ermitteln. Diese Inventare waren schon den Humanisten zumindest teilweise bekannt und wurden im 19. Jh. erstmals, wenn auch unzureichend, ediert. Eine weitere Möglichkeit, die Herkunft einer Handschrift zu ermitteln, besteht in der Analyse des Inhalts. So weist etwa die Hervorhebung des Namens des heiligen Nazarius im „Lorscher Rotulus“ mit Goldtinte deutlich auf das Skriptorium des Monasteriums sancti Nazarii, quod nominatur Lauresham.
Eigene methodische paläographische Studien erlaubten es Lindsay, Lehmann und Bischoff, Handschriften aufgrund eines Schriftvergleiches mit höherer Sicherheit Schreibern aus Lorsch selbst zuzuweisen. Lindsay zog als Beleg hierfür insbesondere Verweis- bzw. Korrekturzeichen, Abkürzungen, Ligaturen etc. heran. Hauptsächlich den Gebrauch von Abbreviaturen nutzte er auch für eine grobe zeitliche Einteilung.
Bischoff stützte sich verstärkt auf Veränderungen in der Schrift selbst und schied das erste Jahrhundert des Lorscher Skriptoriums in vier Phasen: Zwischen 781/83, dem Zeitraum, in dem das Godescalc-Evangelistar fertiggestellt wurde, und kurz nach 800 habe sich in Anlehnung an Schreibgewohnheiten am Hofe Karls des Großen der „Ältere Lorscher Stil“ entwickelt, der auch Ähnlichkeiten mit der Schrift des Metzer Skriptoriums zeigt. Er weist noch starke angelsächsische Einflüsse auf und ist geprägt durch Uneinheitlichkeit in den Buchstabenformen. Über 20 Handschriften im Älteren Lorscher Stil sind heute erhalten. Nach der Periode einer „Übergangsschrift“ und des „Saint-Vaast-Stils“ (benannt nach Ähnlichkeiten, die diese Schrift mit der des Klosters St-Vaast in Arras im heutigen Nordfrankreich aufweist) schuf man noch während des Abbatiats Adalungs, vielleicht ab 820, den „Jüngeren Lorscher Stil“. Dieser von Regelmäßigkeit geprägte Schriftstil sei wohl von der Minuskelform, in der das Capitulare evangeliorum des am Hof entstandenen „Lorscher Evangeliars“ (BAV, Pal. lat. 50, foll. 116r-124v) geschrieben worden war, angeregt und bis zum Ende des 9. Jh. benutzt worden. Rund 100 Handschriften im Jüngeren Lorscher Stil konnten bis in die Gegenwart bewahrt werden.
Die Erkenntnisse Bischoffs ergänzte Hartmut Hoffmann, indem er sich in seinen Untersuchungen zu Schreibschulen des 10. und 11. Jh. auch Lorsch zuwandte: Nachdem das dortige Skriptorium in ottonischer Zeit seine Bedeutung eingebüßt und in der zweiten Hälfte des 10. Jh. eine „verwässerte Abart des Jüngeren Lorscher Stils“ gebraucht hätte, habe man diese Schrift unter Rückgriff auf die karolingischen Muster reformiert. Im 11. Jh. sei die Kalligraphie in Lorsch dann auf einen neuen Gipfel geführt worden, nachdem man wohl aus dem Formengut des als Meister des Registrum Gregorii bekannten ottonischen Buchmalers schon seit dem Ende des 10. Jh. eine eigenständige Buchmalerei entwickelt hätte. Hoffmann ermittelte außerdem auch Schreiber, die ihre Ausbildung in Lorsch erhalten hatten, an bayerischen Skriptorien.
Im Jahr 2002 wurden von Angelika Häse endlich auch die karolingischen Bibliothekskataloge in einer modernen Edition herausgegeben. Einleitend resümiert sie hier den Forschungsstand nicht nur zu den Lorscher Inventaren, sondern zu Bibliothek und Skriptorium insgesamt. Den letzten umfassenden Überblick hierzu bot Marc-Aeilko Aris im 2004 erschienenen Band 7 der „Germania Benedictina“. Schließlich erschien jüngst der Tagungsband „Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation“, der die Beiträge eines im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereiches der Universität Heidelberg „Materiale Textkulturen“ im Herbst 2012 in Lorsch veranstalteten Symposiums versammelt: Tino Licht widmet sich hier dem karolingischen Lorscher Skriptorium und schlägt insbesondere eine Vordatierung des Älteren Lorscher Stils sowie eine Trennung der ab ca. 860 entstandenen Handschriften als „Lorscher Spätstil“ vor. Außerdem stellt Natalie Maag einige Spuren der alemannischen Minuskel an den Anfängen des Lorscher Schriftwesens heraus, und Julia Becker unterstreicht die Bedeutung der Lorscher Bibliothek als Überlieferungszentrum für Schriften der Kirchenväterzeit.